Dr. Lorenzo Cigaina ist klassischer Archäologe an der Universität Regensburg. Studiert hat er in Padua und Triest. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der griechischen Kunst archaischer Zeit, der Stadt Aquileia (vor allem Epigraphik und Grabskulptur), dem römischen Militär und der Insel Kreta im Hellenismus sowie in der Kaiserzeit (regionale / föderale Identitätsphänomene).

Zu diesem letzten Thema hat er das Buch "Creta nel Mediterraneo greco-romano. Identità regionale e istituzioni federali" Creta nel Mediterraneo greco-romano. Identità regionale e istituzioni federali" (Edizioni Quasar, Roma 2020) vorgelegt.

Darin werden die formativen Prozesse und die Entwicklung einer das ganze Kreta umfassenden Regionalidentität verfolgt und deren Beziehung zur entsprechenden politischen Organisation (der „Bund der Kreter“) betrachtet. Die kretische Religion, in der Römerzeit durch den Kaiserkult ergänzt, scheint über sieben Jahrhunderte hinweg als grundlegender Faktor zur Konstituierung der regionalen Identität gewirkt zu haben. 

Der „Bund der Kreter“ (to koinòn ton Kretaiéon bzw. Kretón) entstand im 3. Jh. v.Chr. und bestand bis zur Spätantike fort (Anfang 5. Jh. n.Chr.). Es handelte sich um eine föderative Struktur, die die unabhängigen Stadtstaaten der Insel Kreta vereinte und ihre Außenpolitik gegenüber den hellenistischen Großmächten zuerst, der römischen Verwaltung später, koordinierte. Nach der römischen Eroberung 67 v.Chr. verloren die kretischen Städte den Großteil ihres außenpolitischen und militärischen Handlungsspielraumes. Seinerzeit wurde der „Bund der Kreter“ zu einer Provinzialversammlung unter römischer Herrschaft umgestaltet. 

Die Untersuchung des literarischen, numismatischen, epigraphischen und archäologischen Quellenmaterials stellt einerseits die Organisation des Bundes (politische Organe, Finanz- und Militärwesen) in vier verschiedenen Phasen (Hellenismus, Spätrepublik, Kaiserzeit, Spätantike) kritisch dar, andererseits die außerpolitischen Faktoren – ethnischer, kultureller und vornehmlich religiöser Art –, die zum Zusammenhalt der regionalen Gemeinschaft der Kreter beigetragen haben.

Es zeigt sich, dass bei der Bildung der regionalen Identität die kretische Religion die größte Rolle gespielt hat. Trotz der sich wandelnden politischen Verhältnisse weist sie nämlich über die Jahrhunderte eine erhebliche Beständigkeit und Anpassungsfähigkeit auf, indem sie ein grundlegendes und festes Bezugssystem für die lokale Identität etablierte. Die Übersicht der Provinzialmünzprägung bildet den Rahmen, in den man die übrigen Zeugnisse einordnen und verdeutlichen kann. 

Drei Heiligtümer überregionaler Bedeutung prägen die kultische Landschaft Kretas während der Kaiserzeit: Die Zeusgrotte auf dem Berg Ida in Mittelkreta, das Diktynnaion in Westkreta und das Heiligtum des Asklepios in Lebena an der Südküste. Zu den traditionellen Kulten an diesen Orten trat der Kaiserkult hinzu, der insbesondere auf den Divus Augustus fokussierte. Aus dem Zusammenfließen dieses neuen Kultes und der älteren, vom hellenistischen Bund übernommenen Elemente entwickelte sich eine neuartige, römisch-kretische Identität, an deren Gestaltung andere kulturelle Muster römischer Herkunft (z.B. Thermen, Gladiatorenspiele im Amphitheater u.a.) ihren Anteil hatten. 

Am Beispiel der Polis Gortyn, die zur Hauptstadt der römischen Provinz geworden war, kann man die Aktivitäten des Bundes und ihre Vernetzung mit den traditionellen und städtischen Institutionen am besten beobachten: Föderale Versammlungen, religiöse Feierlichkeiten, wahrscheinlich auch die Prägung der provinzialen Münzen waren hier lokalisiert und lassen sich an Hand von öffentlichen und sakralen Bauten, Bildwerken und Ehrendenkmälern analysieren.

Die Überlagerung des Provinz- und Stadtlebens im selben urbanen Rahmen – insbesondere auf der geschichtsträchtigen Gortyner Agora fassbar – macht auf topographischer Ebene die neue, kosmopolitische Dimension der Kreter in der römischen Kaiserzeit anschaulich: Weiterhin selbstbewusst griechische Bürger, nun jedoch auch Mitglieder eines Weltreiches. Die Dissertation beinhaltet einen prosopographischen Katalog der Bundesvorsitzenden (Kretárchai oder archiereís) und eine umfangreiche Übersicht der die Bundeskulte betreffenden Münzprägung.

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