Der große Abriss der Tradition ist katholischer- wie evangelischerseits (erst) im 19. Jahrhundert zu verorten. Eine kühne These? Es wäre in jedem Fall wert, einmal darüber vertieft nachzudenken. Jedenfalls entledigt sich die Papstkirche seit 1870 immer mehr ihrer Vergangenheit, und dass die Theologie des 19. Jahrhunderts aus Luther einen anderen gemacht hat, als er historisch war, ist auch kein Geheimnis. 

Benjamin Safranski hat 2020 in "Antiphon" einen hübschen Artikel über die "Pilgernonne" Egeria veröffentlicht, die im 4. Jahrhundert Jerusalem besuchte. Sie beschreibt die Jerusalemer Kathedralliturgie und wie dort der Bischof als Christus auftrete und verehrt werde.   

Martin Luther ist davon nicht weit entfernt, denn auch er behauptet die Präsenz Christi im Amt - so auch der Titel einer Tübinger Promotion. 2015 hat Jonathan Mumme seine umstürzende Arbeit über das Amtsverständnis Martin Luthers veröffentlicht, die dem theologischen Trend direkt zuwiderläuft. Während überall unhinterfragt behauptet wird, Luther habe das geistliche Amt aus dem allgemeinen Priestertum abgeleitet und damit demokratisiert, behauptet Mumme das Gegenteil.

Mumme untersucht die Musterpredigten, die der späte Luther vor künftigen Amtsträgern gehalten hat, und resümiert: "Nach den untersuchten Predigten Luthers wird das Amt der Kirche eben nicht aus dem allgemeinen Priestertum systematisch abgeleitet. Vielmehr wird das allgemeine Priestertum [...] als Resultat des Sprechens und Handelns Gottes durch das Amt dargestellt: Nicht das Amt kommt aus dem Priestertum, sondern das Priestertum kommt durch das Amt" (S. 322).

"Zu der Tatsache, dass [... Luther ...] einen wesentlichen (und nicht nur organisatorischen) Unterschied zwischen dem Amt der Prediger, Pfarrer und Bischöfe und dem Amt der getauften Priester (= der Christgläubigen; S.H.) sieht, kommt noch die Beobachtung hinzu, dass Luthers homiletische Darstellung des Amtes einfach und direkt ist, so dass sie sozusagen keine Umwege geht: Luther findet zum kirchlichen Amt nicht über dessen Ableitung aus dem allgemeinen Priestertum und entsprechender Übertragung auf einen Einzelnen aus Ordnungsgründen. Die Amtsträger im geistlichen Regiment [...] sind das, was sie sind, aus einem Befehl Gottes heraus, und haben die Autorität, die sie haben, aus göttlichem Befehl. Man wird ein Haushalter im Hause Gottes, indem der Hausherr selbst dazu bestellt; man wird nicht Haushalter durch eine Delegation der Haushalterschaft der gleichberechtigen Mitglieder des Hausgesindes. Wiewohl die Taufe und der Glaube für den Status vor Gott bestimmend sind, hat keiner seinen Stand im Sinne der Drei-Stände-Lehre aus der Taufe oder aus dem Glauben. Denn Beruf und Befehl machen Prediger und Pfarrer: Luther sieht es als ein Argument der Winkelprediger und Schleicher an, dass alle Christen predigen dürfen, weil sie Priester sind" (S. 325-326).

Diese Studie ist mithin ein wichtiger Anknüpfungspunkt für das Forschungsprojekt des RIGG zur Trient-Rezeption im frühen Luthertum (siehe Martin Chemnitz-Stipendium). 

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