von Johannes Grohe

Benedikt XVI.: "Die Geschichte kommt der Kirche in gewisser Weise durch die verschiedenen Epochen der Säkularisierung zur Hilfe, die zu ihrer Läuterung und inneren Reform wesentlich beigetragen haben".

Papst Benedikt hatte eine positive Sicht der Geschichte, auch jener menschlichen Ereignisse, die die Kirche auf die eine oder andere Weise zu ihrer Mission zurückführen. In einer wichtigen Rede während seiner dritten Deutschlandreise, die er in Freiburg für die in Kirche und Gesellschaft engagierten Katholiken hielt, sprach er über die Notwendigkeit von Reformen in der Kirche angesichts der Glaubenskrise und der zunehmenden Entfremdung vieler Menschen vom Leben der Kirche. In diesem Zusammenhang mahnte er die katholische Kirche in Deutschland (und darüber hinaus) unter dem Begriff der Entweltlichung, sich nicht zu sehr auf weltliche Privilegien zu verlassen und ihren Auftrag in der Welt konsequenter wahrzunehmen.
Damals wurde Benedikt XVI. entweder nicht ganz verstanden oder man wollte ihn nicht ver-stehen, auch weil die Säkularisierung in ihren verschiedenen Aspekten in seinen Äußerungen miteinander verknüpft ist. In einem Artikel aus dem Jahr 2021 erklärte er gegenüber: “Ob das Wort Entweltlichung, das aus dem von Heidegger geprägten Wortschatz stammt, von mir in Freiburg klugerweise als abschließendes Stichwort gewählt wurde, weiß ich nicht” (Herder-Korrespondenz, August 2021).
Damals hatte der Papst den negativen Teil der Bewegung beschreiben wollen, “nämlich das Heraustreten aus der Rede und den Sachzwängen einer Zeit ins Freie des Glaubens” (ebd.). In diesem Sinne gab es in der Geschichte Momente, in denen die Kirche vom Staat Privilegien erhielt: im 4. Jahrhundert zum Beispiel mit der konstantinischen Wende, die der Kirche zunächst die Freiheit der Religionsausübung gewährte, sie dann zunehmend begünstigte und sie am Ende des Jahrhunderts unter Theodosius I. faktisch zur Staatsreligion erklärte, – oder, um ein an-deres Beispiel zu nennen, als Kaiser Otto I. das Reichs-Kirchensystem des Mittelalters schuf, in dem kirchliche Würdenträger zu Fürstbischöfen, Fürstäbten usw. wurden. Diese Momente können zu einer Säkularisierung oder Verweltlichung der Kirche führen, die – zumindest in mancher Hin-sicht – ihren eigentlichen Auftrag zu verdecken vermag. Die historische Epoche der Säkularisation muss von diesen “Säkularisierungen” unterschieden werden, da sie genau das Gegenteil bedeu-tet: die Enteignung der Kirche von ihrem Eigentum und ihren Privilegien.
“In der geschichtlichen Ausformung der Kirche zeigt sich jedoch auch eine gegenläufige Tendenz, dass die Kirche zufrieden wird mit sich selbst, sich in dieser Welt einrichtet, selbstgenügsam ist und sich den Maßstäben der Welt angleicht. Sie gibt nicht selten Organisation und Institutionalisierung größeres Gewicht als ihrer Berufung zu der Offenheit auf Gott hin, zur Öffnung der Welt auf den Anderen hin.
Um ihrem eigentlichen Auftrag zu genügen, muss die Kirche immer wieder die Anstrengung unternehmen, sich von dieser ihrer Verweltlichung zu lösen und wieder offen auf Gott hin zu wer-den. Sie folgt damit den Worten Jesu: ‘Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin’ (Joh 17,16), und gerade so gibt er sich der Welt. Die Geschichte kommt der Kirche in gewisser Weise durch die verschiedenen Epochen der Säkularisierung zur Hilfe, die zu ihrer Läu-terung und inneren Reform wesentlich beigetragen haben.
Die Säkularisierungen – sei es die Enteignung von Kirchengütern, sei es die Streichung von Privilegien oder ähnliches – bedeuteten nämlich jedes Mal eine tiefgreifende Entweltlichung der Kirche, die sich dabei gleichsam ihres weltlichen Reichtums entblößt und wieder ganz ihre weltliche Armut annimmt. Damit teilt sie das Schicksal des Stammes Levi, der nach dem Bericht des Alten Testamentes als einziger Stamm in Israel kein eigenes Erbland besaß, sondern allein Gott selbst, sein Wort und seine Zeichen als seinen Losanteil gezogen hatte. Mit ihm teilte sie in jenen geschichtlichen Momenten den Anspruch einer Armut, die sich zur Welt geöffnet hat, um sich von ihren materiellen Bindungen zu lösen, und so wurde auch ihr missionarisches Handeln wieder glaubhaft.
Die geschichtlichen Beispiele zeigen: Das missionarische Zeugnis der entweltlichten Kirche tritt klarer zutage. Die von materiellen und politischen Lasten und Privilegien befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein”.

Benedikt XVI. in Freiburg i.Br., 25. September 2011. Der vollständige Redetext