Eines der benutzerfreundlichsten deutschen Archive ist das Bundesarchiv Koblenz, welches auf Wunsch einzelne Bestände digitalisiert (Suchprogramm INVENIO). Jüngst wurden Teile des dortigen Nachlasses von Georg Graf von Hertling (1843-1919) online gestellt. Hertling gründete 1876 in Koblenz die "Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland" (deshalb wird 2026 zum 150jährigen Bestehen die Generalversammlung dort stattfinden). Hertling war zuletzt Bayerischer Ministerpräsident und deutscher Reichskanzler - der erste katholische Kanzler. 

Von Berufs wegen war er Philosophieprofessor in München. Kaum jemand weiß aber, dass er auch dichtete. Zum Tod seiner ältesten Tochter, dem Sonnenschein der Familie, am 6. Dezember 1906 schrieb er die folgenden Verse (BArch N 1036/56, fol. 87-88):

 

Ich denke Dein beim ersten Sonnenstrahle

Der Tag verkündend in mein Zimmer dringt.

Ich denke Dein, wenn feierlich im Tale

Vom Turm herab die Abendglocke dringt.

 

Ich sehe Dich, wenn über Felsenklüften

Im Mondesglanz der weisse Nebel wallt;

Ich höre Dich, wenn aus den blauben Lüften

Das Morgenlied der jungen Lerche schallt.

 

Du bist mir nah im bunten Weltgetriebe

Dein sanftes Wort besiegte jeden Streit;

Und still für mich wein' ich um Deine Liebe,

Hüllt mich die Nacht in tiefe Einsamkeit.

 

Du warst die Freude aller, die Dich kannten,

Warst unsres Lebens heller Sonnenschein;

Ob Kinderzeit, ob Lenzesjahre schwanden,

Du bliebst Dir gleich, ein lichter Edelstein.

 

Nun gingst Du heim, uns halten noch die Schranken

Der Zeitlichkeit in tiefem Weh zurück;

Mein Herzblut fliesst, und dennoch muss ich danken,

Denn Du warst mein, warst Segen uns und Glück.