Über den Montag der Karwoche in Jerusalem schreibt Egeria im 4. Jahrhundert:

"Am anderen Tag, das heißt am Montag, geschieht alles, was gewöhnlich vom ersten Hahnenschrei (ca. 4-5 Uhr in der Nacht) bis zum Morgen in der Anastasis geschieht. Genauso geschieht es auch zur Terz (3. Stunde = 8 Uhr) und zur Sext (6. Stunde = 11 Uhr) wie in der ganzen Fastenzeit. Aber zur Non (9. Stunde) versammeln sich alle in der großen Kirche, das heißt im Martyrium, und dort werden bis zur ersten Nachtstunde (18 Uhr) Hymnen und Antiphnen rezitiert. Es werden auch zu Tag und Ort passende Lesungen vorgetragen - immer wieder unterbrochen von Gebeten.

Auch das Lucernar  (Lichtfeier) wird dort gefeiert, wenn die Stunde dafür begonnen hat: So kommt es auch, dass die Entlassung aus dem Martyrium erst bei Nacht geschieht. Wenn die Entlassung stattgefunden hat, wird der Bischof mit Hymnen zur Anastasis geleitet. Ist man in die Anastasis eingetreten, wird ein Hymnus rezitiert, ein Gebet gesprochen, die Katechumenen werden gesegnet, ebenso die Gläubigen. Dann werden alle entlassen." (nach G. Röwekamp, Egeria / Itinerarium, 2017)

Hinzuzufügen ist, dass Egeria offensichtlich eine Kleriker- und Mönchsliturgie beschreibt. Die Hauptakteure sind weniger das "Volk" als vielmehr Mönche, Jungfrauen und Kleriker, die es sich leisten können, praktisch die halbe Nacht und den ganzen Tag auf den Beinen zu stehen und nur zwischendurch hastig zu schlafen und zu essen. Palästina hat wie Ägypten eine frühe, starke monastische und eremitische Tradition. Aber, und das ist entscheidend, die Mönchs- und Nonnenliturgie vollzieht sich nicht in den Klöstern, sondern in der Bischofskirche und ist damit eng verzahnt mit der Bischofsliturgie. Das hat mit der alten kirchlichen Tradition des "ein Bischof - ein Altar - eine Eucharistie" zu tun. Es gab nie Hauskirchen, und genaus haben sich auch asketische Kreise nicht von der Kathedralliturgie abzukapseln!

Auch in Jerusalem gibt es nur diese einzige Bischofskirche, die das ungeheure Privileg hat, über den Heiligen Stätten des Golgotha und Grabes Christi zu stehen (siehe Bild). Bischof Kyrill von Jerusalem (zur Zeit Egerias) bezeugt ausdrücklich, dass in Palästina jede Stadt nur eine Kirche hat, die Bischofskirche. Auch in Jerusalem ist das nicht anders. Neben dem "Martyrium", d.h. der großen konstantinischen Basilika, gibt es nur noch eine Kapelle auf dem Zion (die Gedenkstätte der Apostel, das Obergemach von Pfingsten), der schon außerhalb der Stadt liegt (siehe S. Heid, Altar und Kirche, 2019, 107-109).

Die Mönche und Nonnen feiern ihre Liturgie also nicht in ihren Klöstern, sie haben dort womöglich gar keine Kirchen, sondern kommen zur Grabeskirche. Dort gehen sozusagen die Bischofsliturgie und die Mönchsliturgie ineinander über. Das Rückgrat bildet die Bischofsliturgie. Der Bischof mit seinem Klerus (Presbytern und Diakonen) ist letztendlich Vorsitzender dieser Liturgie, aber er beschränkt sich auf die kirchlichen Horen, an denen auch "das ganze Volk" teilnimmt, und kommt immer nur sporadisch in die Kirche (Martyrium oder Anastasis), um diverse Riten und Segnungen zu vollziehen.

Man muss sich das so vorstellen, dass am Tag mehrfach der Bischof mit großem Pomp, seinem ganzen Klerus, einzieht und entsprechend das Volk zusammenläuft. Alle wollen den Segen des Bischofs empfangen. An der Bischofsliturgie, also dem Stundengebet und der Messe, nehmen Volk und Mönche bzw. Nonnen teil. Den Rest des Tages bzw. der Nacht setzen die Asketen ihre eigene Liturgie fort, an der wengier Volk teilnimmt, weil man ja auch irgendwann mal arbeiten muss! Kein Mensch hätte diese in ihren stundenlangen Psalmengebeten und Lesungen wahrscheinlich eintönige Liturgie der Mönche, Jungfrauen und Asketinnen zur Kenntnis genommen, wenn nicht die "Nonne" Egeria persönlich daran höchst interessiert gewesen wäre und alles in ihrem berühmten Reisebericht beschrieben hätte.

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