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Das von Andreas Sohn u.a. herausgegebene Bändchen über den Dominikaner Heinrich Denifle (1844-1905), der ein treuer Gast und Freund des Campo Santo Teutonico war, trägt dazu bei, nicht nur die wissenschaftliche Leistung des streitbaren Mönchs in ihrer gesamten Breite zu sehen, sondern auch sein gewaltiges, zweibändiges Lutherbuch ("Luther und Lutherthum in der ersten Entwicklung quellenmäßig dargestellt", Mainz 1904-1909) etwas entspannter zu anzugehen. Natürlich finden sich diese Bände - gleich neben dem dreibändigen Lutherwerk von Hartmann Grisar SJ - in der Bibliothek des Campo Santo. Aber zunächst ein Blick auf Denifle selbst.

Denifle kam 1880 nach Rom an die Ordenskurie auf dem Aventin und wurde 1883 Unterarchivar des Vatikanischen Geheimarchivs. Dort wurde er gleichermaßen von Katholiken und Protestanten für seine überaus entgegenkommende Art und die Liberalität, mit der er jedem die gewünschten Akten aushändigte, gelobt. 1888 soll er ins Direktorium des neu gegründeten Römischen Instituts der Görres-Gesellschaft berufen werden, was an einer gutgemeinten Intervention Ludwig Pastors scheitert. Als er durch seine streckweise polemischen Lutherbücher heftig angegriffen wird, verteidigt ihn der Münchener Historiker Hermann Grauert, maßgebliches Mitglied des genannten Direktoriums, in einem langen Nachruf im "Historischen Jahrbuch" (1905) der Görres-Gesellschaft.   

Denifles zweifellos berechtigtes Anliegen war es, den historischen Luther von der zentimeterdicken Politur zu befreien, die ihm das 19. Jahrhundert verpasst hatte. Historisches Luthertum und moderner Protestantismus sind eben zwei paar Schuhe. Diese Einsicht verdanken wir u.a. Denifle. Aber es gibt auch den Literaten Denifle.

Der Schreiber hat sich erlaubt, Denifles Luther-Bände in die Hand zu nehmen und ist überrascht: Dieser Mann kann hinreißend formulieren, seine Worte sprudeln und benetzen fortwährend die lechzende Zunge mit prickelnden Gedanken. Man muss bei weitem nicht alles teilen, wird vieles ablehnen, aber dass man es bei Denifle mit einem orginellen, authentischen Denker zu tun hat, der seinesgleichen sucht, das steht außer Frage. Köstlich schon, wie er sich selbst charakterisiert:

"Leisetreterei kenne ich nicht, habe sie mein Leben nie gekannt, werde sie auch nie lernen; ich bin schon zu alt dazu. Ueberdies führt sie zu gar nichts, sie hilft nichts, ja schadet nur. Darüber möge sich doch Niemand Illusionen hingeben. Uebrigens habe ich seit meiner Kindheit die Offenheit und Ehrlichkeit als die Grundlagen des Verkehrs mit dem Nebenmenschen kennen gelernt. Seit 30 Jahren habe ich manchen Strauß auf verschiedenen Gebieten ausgekämpft; Eines werden mir aber alle Gegner zugeben: sie wissen, wie sie bei mir dran sind, und daß ich ohne Hehl geradeaus gehe und meine Gedanken nicht verhülle und verberge" (Bd. 1, VII).

Als Geschmacksprobe noch ein Stück aus dem 2. Band (S. 53-55), in dem Denifle im Grunde genommen das Versagen der katholischen Theologie in der Vorreformation anprangert, aber auch das Volk psychologisiert und Erklärungsversuche macht, wie es zum Erfolg der lutherischen Erneuerungsbewegung kommen konnte, dabei geschickt Seitenblicke auf die Gegenwart freigebend:

"Man muß das wohl beherzigen, wenn man die Kopflosigkeit der Menge nach 1517 beachtet. Man wird an die Verwirrung der Köpfe bei einem Erdbeben erinnert. Die gelehrten Theologen, die seit langem daran gearbeitet hatten, das Volk zu verwirren und zu beunruhigen, haben den Verlust ihres Einflusses reichlich verdient, aber den Schaden ob ihrer Bedeutungslosigkeit trug das steuerlose Volk und die Kirche, deren Vorkämpfer sie hätten sein sollen.

Zweifellos haben schon auch andere Gründe dazu mitgewirkt, daß sich das Volk so leicht in die Schlingen des Irrtums verfing, der Reiz des Neuen, die Lust am Lärm und an der Unruhe, die Schadenfreude über die Hilflosigkeit der öffentlichen Mächte, die Abneigung gegen die Autorität, die Hoffnung, aus einer gewaltsamen Änderung irgend welche Erleichterung zu erlangen, kurz alle psychologischen Antriebe, die stets in ähnlicher Lage für die Menge den Ausschlag geben und sie auf die Seite des Umsturzes treiben, ohne daß sie aus eigener Überzeugung einen Umsturz wünschen - man denke an 1789, an 1848 und an den neueren Sozialismus. Das Schlimme zieht ja immer leichter als das Gute. Aber alles ist damit nicht erklärt. Das Volk war ja doch im ganzen der Religion noch im Herzen ergeben, und hing an ihr selbst dann, nachdem es sie bereits preisgegeben hatte, wie Luther zu seinem Verdruß noch spät gerade in seiner nächsten Nähe erfahren mußte. Man darf also mit Zuversicht annehmen, daß es denn doch nicht so leicht zum Abfall wäre zu bringen gewesen, wenn es etwas mehr Vertrauen auf seine geistigen Führer gehabt hätte. So aber waren derer, die sich offen und entschieden der Neuerung entgegenstellten, viel zu wenig, und diese wenigen litten unter dem Fluch der Einflußlosigkeit, den die Mehrzahl ihrer Amtsgenossen nicht ohne eigene Schuld auf sich geladen hatte.

Diese Lage der Dinge kann man nur bedauern, und das um so mehr, als die ewigen Stürme seit 150 Jahren denn doch schon hätten einige Besorgnis lehren können. Verwundern darf man sich übrigens nicht darüber. Der Mensch gewöhnt sich an ununterbrochenes Sturmgeheul und Zittern des Bodens wie an das Klappern der Mühle. Und wenn er persönlich in sicherer Stellung ist, dann beurteilt er die Lage in der vom See überschwemmten Gegend mit unerschütterlicher Gemütsruhe. Darin sind die Menschen zu allen Zeiten und in den verschiedensten Lebensstellungen gleich. Auch heute (1909; S.H.) benehmen sich die leitenden und die tonangebenden Klassen der Gesellschaft so ruhig und so zuversichtlich wie nur irgend einmal in grauer Vorzeit, obschon die Welt seit 120 Jahren aus der Erschütterung nicht mehr herauskommt. Insofern darf man den kirchlichen Kreisen jener Zeit keinen allzu großen Vorwurf machen, sie benahmen sich eben wie sich die Menschen stets benehmen.

Indes, mag man diese Sorglosigkeit menschlich nennen und insofern begreiflich finden, ganz zu entschuldigen war sie gewiß nicht. Seit mehr als einem Jahrhundert war dre Ruf nach einer Reform der Kirche an Haupt und Gliedern nicht mehr verstummt. Das hätte allen zur Warnung dienen können, hoch und niedrig. Er hat aber in Wahrheit nirgends viel genutzt, oben wenig und unten noch weniger. Oder, um es genauer zu sagen, dieser Ruf hat in den weitesten Kreisen so unermeßlichen Schaden angerichtet, daß gerade er unter die Hauptursache des kommenden Zusammenbruches zu rechnen ist".